Ein verlorenes Jahrzehnt? Ein kurzes Nachdenken über die 1990er

Die 1990er waren die Goldenen Jahre des Westens im 20. Jahrhundert: Die Welt war von dem Schrecken des Kalten Krieges befreit, der stalinistische Osten längst auf dem Weg in die Demokratie. Das Gesellschaftssystem des Westens hatte gesiegt und sich als das überlegenere erwiesen. Zu dieser Systemfrage hatten die Kommentatoren aus allen politischen Richtungen die bipolare Welt nach dem Zweiten Weltkrieg stilisiert: Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß (jaja, die wenigen Versprengten der Blockfreien vergaß man allzu gerne). Die Dotcom-Blase war noch in weiter Ferne, die Wirtschaftsleistung und der Wohlstand der westlichen Industriestaaten waren auf einem hohen Niveau und die Schere zwischen arm und reich klaffte noch nicht ordinär auseinander: Der gesellschaftliche Reichtum war noch gleichmäßiger verteilt als in der Zeit danach. Vor dem Schlafengehen beschäftigte man sich mit den Ausläufern der Postmoderne-Debatte, da man mit dem Mauerfall nochmal an einer neuen Facette herumkauen konnte. Der Computer hatte endgültig seinen kommerziellen Durchbruch und das Internet seine Unschuld noch nicht verloren. Die letzten Stellvertreterkriege des Jahrhunderts auf dem Balkan und der Konflikt am Golf schärften das Profil des Westens und bestätigten ihn ebenso in seiner Überlegenheit wie das Ende der Apartheid in Südafrika. Die Kulturindustrie feierte sich selbstbewusst wie kaum zuvor, Selbsthinterfragungen wie sie noch von den Eagles (we are all just prisoners here, of our own device) oder von Simon & Garfunkel (silence like a cancer grows) Jahrzehnte vorher vorgenommen wurden, fanden erst in der Verunsicherung der 2000er Jahre wieder ähnlich Raum und Resonanz. Die Popkultur des Westens in den 1990ern war selbstverliebt wie nie zuvor und selbstbewusst wie nicht mehr danach.


Und trotzdem sind die 1990er ein verlorenes Jahrzehnt. Während sehr relevante und hitzige Theoriedebatten in allerlei akademischen und politischen Zirkeln geführt wurden, koordinierte sich einer die öffentliche Wahrnehmung dominierenden geschichtsphilosophischen Diskurse entlang der Frage nach dem ‚Ende der Geschichte‘. Damit meinte Francis Fukuyma, dass nach dem Ende des real existierenden Kommunismus die Welt in einem Zustand von andauerndem Frieden im Liberalismus angekommen sei. Ein paar Jahre vorher feierte Hollywood in Rambo III noch die Klerikalfaschisten am Hindukusch: Was sich in 9/11 entfesselte, entpuppte sich zwar als der neue Gegenspieler des Westens, der, wenn man so möchte, eine Dialektik fortsetzte, den Westen aber unvorbereitet traf. Oriana Fallaci wurde schon sehr früh zu dem schlechten Gewissen der blinden Fortschrittsapostel. Und viele Menschen, die noch an einen sozialen Fortschritt glaubten, die wenigen, die noch übrig geblieben waren nach dem Wegfall der bipolaren Welt, waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um dem Siegeszug des Neoliberalismus etwas entgegen zu setzen.

Die 1990er sind aber auch deshalb ein verlorenes Jahrzehnt für den Westen, weil man sich als den Sieger sah, der über der Weltgeschichte triumphierte und nicht in der Lage gewesen ist, auch nur ansatzweise Korrektive und andere Ansätze in einer gesellschaftspolitisch relevanten Art und Weise abseits der Käseglocken zu absorbieren. Homi K. Bhabha, der indische Theoretiker des Postkolonialismus in Harvard, trat zwar mit seinem Hauptwerk pünktlich zu den 1990ern in Erscheinung, wurde aber erst in den 2000ern ins Deutsche übersetzt. Auch stellt sich die Frage: Sind die 1990er ein Aussetzer in der deutschen Literatur? Schirrmacher hatte einen solchen Verdacht. Während die Popliteratur vom Feuilleton gefeiert wurde, hatten es Autorinnen und Autoren mit interkulturellen Bezügen schwer eine ähnliche Resonanz zu erfahren. Dazu gehören etwa Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada oder Rafik Schami, die erst nach und nach mit ihren Themen und Literaturen in das öffentliche Bewusstsein drangen. Zwar kam 1993 mit dem Film The House of the Spirits der Roman von Isabel Allende in die Kinos, der eindringlich die Politik des Westens in Lateinamerika thematisierte, aber letztlich dokumentierte er damit einen blinden Fleck. Die Frage, die das Geisterhaus eigentlich schon stellte, dröhnt heute noch nach: Hat sich der Westen nicht vielleicht zu Tode gesiegt? Und konnte man das nicht schon in den 1990ern sehen?

Der Westen war weder auf die Wucht des Islamismus vorbereitet, der heute bis in das westliche Verteidigungsbündnis hineinreicht, noch hatte man damit gerechnet, wie schnell sich Russland als autokratischer Staat wieder auf der Weltbühne zurückmelden würde. Aber der Sieg des Kalten Krieges war eigentlich ein Verlust, denn das wichtigste, was dem Westen in den 1990er Jahren verloren ging, war ein Gegengewicht, ein Gegenpart: Die westliche Welt musste nicht mehr beweisen, dass sie die bessere von zwei Welten war, dass sie die bessere Alternativen mit Freiheit und Menschenrechten zu bieten hatte und die westlichen Gesellschaften vergaßen nahezu allesamt, dass demokratisch-liberale Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherheit permanent neu verhandelt werden müssen und auch zwingend notwendig für die innere Stabilität der Gesellschaften sind. Die Vermutung steht im Raum, dass der Kapitalismus zwischen 1917 und 1989 in einer moderaten Phase gewesen ist und erhält gerade dadurch heute eine erschreckende Plausibilität, da es gerade die autokratischen Systeme von Russland über die Türkei bis nach China sind, die dem Westen beweisen wollen, dass für die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht unbedingt die Freiheit aller Menschen notwendig ist, sondern nur die der Funktionselite. Das ist eine Ambivalenz, die in den 1990ern begann und in Deutschland mit seinen Ich-AGs und dem Feiern des Niedriglohnsektors eine eigentümliche Ausprägung fand. Die Geschichte mündete zwar nicht, entgegen der These Fukuyamas, in einer monopolaren Welt, aber trotzdem hatte man irgendwie ein Gleichgewicht verloren, was Fukuyama dann doch dokumentierte: Der Triumph im Kalten Krieg war ein Pyrrhussieg.

Eine Gesellschaft benötigt die Literatur, um sich selbst beobachten zu können. Das ist Leistung, Anspruch und Funktion gleichzeitig, und das sagt eigentlich nicht nur etwas über eine Gesellschaft aus, die nicht mehr liest, sondern die 1990er müssten sich als ein verlorenes Jahrzehnt auch in den Literaturen wiederfinden, wie Schirrmacher vermutete. Ist dem so? Nicht unbedingt: Einer der erfolgreichsten Romane der 1980er in Deutschland war Stan Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit. Der Roman kommt zwar gänzlich ohne einen unmittelbaren Gegenwartsbezug aus, konstituiert aber mit der Weltsicht, die er vermittelt, eine beißende Kritik am vorherrschenden Zeitgeist und der einhergehenden Deformationen zwischenmenschlicher Beziehungen. Es ist eine Kritik am Fortschrittsideal seiner Zeit, eine durchoptimierte Lebensrealität als den alternativlosen Königsweg der menschlichen Entwicklung anzusehen. Dem widerspricht John Franklin mit seiner Biographie und in seinem Habitus, er zeigt alternative Sichtweisen auf und bricht mit Erwartungsmustern. Wenn heute diskutiert wird, ob Börsencomputer Aktien nicht mindestens für eine Sekunde halten müssten und dies abgelehnt wird mit dem Hinweis, dass dies für die Volkswirtschaften schädlich sei, dann ist die Entdeckung der Langsamkeit ein nonkonformes und widerständiges Antidot gegen einen Zeitgeist, der einen optimierten Lebenslauf mit verkürzter Schulzeit und straffer Studienzeit fordert, um möglichst früh dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Das Individuum behauptet im Modus der Langsamkeit seine Autonomie gegenüber den anonymen Prozessen mit ihrem systemischen Druck auf allen sozialen Ebenen. Diese zeitgeistkritische Interpretation überlagerte mit den digitalen Umbrüchen und dem kommerziellen Durchbruch des Internets in den 1990er Jahre zunehmend andere Lesarten. Heute ist die ‚Entdeckung der Langsamkeit‘ zwischen Esoterikzirkel, Yogamatte und unverpackt-alternativem Lebensstil längst zu einem Schlagwort geworden.

Die 1990er entfalteten aber auch eine ungeheure Suggestionskraft: Eine ganze Generation wuchs ohne das Damoklesschwert des Atomtodes auf, welches über allen Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger bewusst schwebte. Es war die erste Generation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die es sich leisten konnte, keine Ziele mehr zu haben, die es verstand, ihre Jugend in einem Feuerwerk der melancholischen Lebenslust zu verschwenden. Damit glichen die 1990er in einer eigentümlichen Art dem fin de siècle, wenn man an die melancholischen Idealisierungen der Kindheit von Benjamin, Adorno oder Proust denkt. Die Popkultur der 1990er zeigte ein Selbstbewusstsein wie seit den Sixties nicht mehr und feierte sich selbst wie seitdem nicht mehr. Die Popsternchen heute haben dank Internet und Gigabitleitung eine höhere Reichweite, dafür verbrannten sich die Sternchen der 1990er in einem Feuerwerk des Augenblicks und der Lebenslust gleich selbst. Es zählte der Augenblick, der Genuss, das Leben, und die Dekadenz erinnerte beinahe an die Goldenen Zwanziger. Man feierte sich selbst, das Leben und die Freiheit und bedauerte höchstens den frühen Tod von Freddie Mercury und Kurt Cobain.

Die 1990er im Westen waren ambivalent wie kaum ein anderes Jahrzehnt: Ein verlorenes geschichtsphilosophisches Jahrzehnt, aber doch ein Gewinn an Selbstsicherheit und Zuversicht. Seitdem hat sich viel verändert. ‚Heimat‘, daran hat jüngst Didier Eribon wieder erinnert, kann nicht nur räumlich verstanden werden, sondern auch sozial – und natürlich auch temporal: Wer ein Heimatvertriebener aus den 1990er des Westens ist, der lebt heute mit sehr gemischten Gefühlen. Kindheit und Jugend waren, im Großen und Ganzen und von Einzelschicksalen abgesehen, unbeschwert und man war noch nicht unbedingt dafür verantwortlich, alles Weltgeschichtliche unkommentiert sich selbst zu überlassen. Wer in den 1990er des Westens sozialisiert wurde, hat es heute schwer, sich noch zurecht zu finden: Das unbeschwerte und optimistische Lebensgefühl von damals lässt die Gegenwart wie eine Dystopie erscheinen. Auch das gehört zu den ambivalenten Eigentümlichkeiten dieses Jahrzehnts.


Dieser Essay entstand in Vorüberlegung zum KSM-Seminar Kulturgeschichte der 1990er im Frühjahrssemester 2018 und ist ein Vorabdruck eines für 2019 geplanten Essaybandes. Bildquelle: Thomas Cole: Empire – Destruction.