Der unglückliche Sisyphos

An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen
des je Einzelnen läßt sich das Wesen der Kollektive in der
falschen Gesellschaft am genauesten studieren […].[1]

Der Mensch suchte nach dem Zweiten Weltkrieg, wie in Zeiten zuvor, nach einem Abbild, einer Allegorie, einem Bild, in dem er sich wiederfinden konnte. Waren es früher die Götter, die nach seinem Ebenbild entstanden, mit denen man sich dann gemein machen konnte, so ist nach der Entzauberung der Welt kaum noch Ähnliches denkbar. Vielleicht ist in diesem Sinne Friedrich Nietzsches Zarathustra eine Art Übergangsfigur in der Sehnsucht nach einem idealisierten, gottähnlichen Menschen hin zum gewöhnlichen, entzauberten, nackten Bürobewohner der Neuzeit. Das ist nicht mehr alleine der Fall der Götter, es ist der Fall des Menschen selbst. Dieser Prozess der Entzauberung führte auch zu einer Transformation der Mythopoetiken, zu einer Veränderung der Bezüge und des Bezugsrahmens und auch zu einem Wandel, wie sie erzählt werden. Den Menschen unserer Gegenwart, längst aus dem Olymp geworfen, ist ein niederer Held wie Sisyphos näher geworden. Alleine der Gedanke, man könne heute noch Vergleiche und Bezüge ähnlich herstellen wie sie noch im 19. Jahrhundert denkbar waren, ist absurd. Was hundert Jahre zuvor ein selbstverständlicher Bezugspunkt war, scheint im 20. Jahrhundert nicht mehr gleichermaßen möglich zu sein und die Götter, unter denen Friedrich Hölderlin noch wandelte, sind uns heute fremder als je zuvor.

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Ein verlorenes Jahrzehnt? Ein kurzes Nachdenken über die 1990er

Die 1990er waren die Goldenen Jahre des Westens im 20. Jahrhundert: Die Welt war von dem Schrecken des Kalten Krieges befreit, der stalinistische Osten längst auf dem Weg in die Demokratie. Das Gesellschaftssystem des Westens hatte gesiegt und sich als das überlegenere erwiesen. Zu dieser Systemfrage hatten die Kommentatoren aus allen politischen Richtungen die bipolare Welt nach dem Zweiten Weltkrieg stilisiert: Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß (jaja, die wenigen Versprengten der Blockfreien vergaß man allzu gerne). Die Dotcom-Blase war noch in weiter Ferne, die Wirtschaftsleistung und der Wohlstand der westlichen Industriestaaten waren auf einem hohen Niveau und die Schere zwischen arm und reich klaffte noch nicht ordinär auseinander: Der gesellschaftliche Reichtum war noch gleichmäßiger verteilt als in der Zeit danach. Vor dem Schlafengehen beschäftigte man sich mit den Ausläufern der Postmoderne-Debatte, da man mit dem Mauerfall nochmal an einer neuen Facette herumkauen konnte. Der Computer hatte endgültig seinen kommerziellen Durchbruch und das Internet seine Unschuld noch nicht verloren. Die letzten Stellvertreterkriege des Jahrhunderts auf dem Balkan und der Konflikt am Golf schärften das Profil des Westens und bestätigten ihn ebenso in seiner Überlegenheit wie das Ende der Apartheid in Südafrika. Die Kulturindustrie feierte sich selbstbewusst wie kaum zuvor, Selbsthinterfragungen wie sie noch von den Eagles (we are all just prisoners here, of our own device) oder von Simon & Garfunkel (silence like a cancer grows) Jahrzehnte vorher vorgenommen wurden, fanden erst in der Verunsicherung der 2000er Jahre wieder ähnlich Raum und Resonanz. Die Popkultur des Westens in den 1990ern war selbstverliebt wie nie zuvor und selbstbewusst wie nicht mehr danach.

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